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Neue Fragmente

Novalis


Noten an den Rand des Lebens

FRAGMENTE ÜBER DEN MENSCHEN

Glück und Unglück - beides negativ und positiv. 2132

Handeln nach Grundsätzen ist nicht der Grundsätze halber schätzenswert, sondern der Beschaffenheit der Seele wegen, die es voraussetzt. Wer nach Grundsätzen handeln kann, muß ein schätzenswerter Mann sein - aber seine Grundsätzc machen ihn nicht dazu, sondern nur das, was sie bei ihm sind - Begriffe seiner wirklichen Handlungsweise - Denkformen seines Seins. 2133

Die Geschichte rückwärts erzählt.
Philosophie der Menschheit.
Die Gattung wird zum Individuo - nach unsrem Gesichtspunkte. Die Menschen werden immer persönlicher - die Gattung immer weniger persönlich.
Die Menschheit grünt und blüht, welkt und ruht zu gleicher Zeit. 2134

Scheinbar gehn wir vorwärts. 2135

Für Gott gehn wir eigentlich umgekehrt.
Vom Alter zur Jugend. 2136

Jeder denkende Mensch wird allemal Wahrheit finden - Er mag ausgehn, wo, und gehn, wie er will. 2137

Vollendeter Mensch - Person, zu sein - das ist die Bestimmung und der Urtrieb im Menschen. 2138

Die unendliche Idee unsrer Freiheit involviert auch eine unendliche Reihe unsrer Erscheinungen in eincr Sinnenwelt. - Wir werden nicht an die einzige Erscheinung in unserm irdischen Körper auf diesem Planeten gebunden sein. 2139

Stärke läßt sich durch Gleichgewicht ersetzen - und im Gleichgewicht sollte jeder Mensch bleiben - denn dies ist eigentlich der Zustand seiner Freiheit. 2140

Über die Menschheit. Ihre reine vollständige Ausbildung muß erst zur Kunst des Individui werden - und von da erst in die großen Völkermassen und dann in die Gattung übergehn. Inwiefern ist sie ein Individuum? 2141

Pflichten gegen die Menschen - Attention - Liebe - Nachgiebigkeit. Was sie reden, gehe dir nichts an. 2142

Man setzt sich immer dem Gesetz entgegen - und dies ist natürlich. 2143

Hang - Trieb. (Der Mensch kann alles werden, worauf er reflektieren, oder was er sich vorsetzen kann.) 2144

Wo der Mensch seine Realität hinsetzt, was er fixiert, das ist sein Gott, seine Welt, sein Alles. Relativität der Moralität. (Liebe) Unsre pedantischen Grundsätze. (Was gefällt - was mißfällt uns - was zieht uns an - was stößt uns ab - Realität der menschlichen Phantasie und des Willens. Freiheit der Selbstbestimmung) . Mich muß sogar das mir Unangenehme an andern Menschen interessieren. Des Schicksals usw. 2145

Ayez le courage d'être vertueux, et vous le serez. 2146

"Religionen sind die ersten Versuche der Philosophie. Der Gott ist zugleich die erste Ursache aller Dinge. Vervielfältigung der Ursachen. Aufsuchung des Wie dieser Kausalität." [Hemsterhuis.]
(Götterkriege. Homogene - Oxygene.)
Der Mensch sucht überall außer sich das, was ihm am angemessensten ist - das Ich - das agens jedes Dings. 2147

Wünsche und Begehrungen sind Flügel - Es gibt Wünsche und Begehrungen - die so wenig dem Zustande unsers irdischen Lebens angemessen sind, daß wir sicher auf einen Zustand schließen können, wo sie zu mächtigen Schwingen werden, auf ein Element, das sie heben wird, und Inseln, wo sie sich niederlassen können. 2148

Sur l'homme et ses rapports. Von mir. Einleitung. Das wunderbarste, das ewige Phänomcn, ist das eigene Dasein. Das größeste Geheimnis ist der Mensch sich selbst - Die Auflösung dieser unendlichen Aufgabe in der T a t ist dic Weltgeschichte. - Die Geschichte der Philosophie, oder der Wissenschaft im Großen, der Literatur als Substanz, enthält die Versuche der idealen Auflösung dieses idealenProblems - dieser gedachten Idee. Dieser Reiz kann nie aufhören zu sein - ohne daß wir selbst aufhörten sowohl der Sache als der Idee nach. So wenig also die Weltgeschichte aufhört - das Sein en gros, so wenig wird das Philosophieren oder das Denken en gros aufhören.
Wenn man aber bisher noch nicht philosophiert hättc ? sondern nur zu philosophieren versucht hätte ? - so wäre die bisherige Gcschichte der Philosophie nichts weniger als dies, sondern nichts weiter als eine Geschichte der Entdeckungsversuche des Philosophierens.
Sobald philosophiert wird, gibt es auch Philosopheme, und die reine Naturgeschichte (Lehre) der Philosopheme ist die Philosophie.
Jede Affektion schreibt der Mensch einer andern Affektion zu, sobald er zu denken anfängt.
(Jeder Gedanke ist in Rücksicht auf seinen Grund - ein Philosophem, denn dies heißt einen Gedanken im Großen betrachten - in seinem Verhältnis zum Ganzen, an dem er ein Glicd ist.)
So überträgt er den Begriff von Ursache, den er zu jeder Wirkung hinzudenken muß, zum Behuf einer Erklärung auf ein außer ihm befindliches Wesen - ohnerachtet er sich in einer andern Rücksicht zu der tJberzeugung gezwungen fühlt, daß nur er selbst sich affiziere - diese tJberzeugung bleibt aber trotz ihrer Evidenz auf einem höhern Standpunkt auf einem niederen, id est für den bloßen Vcrstand unbegreiflich - und der Philosoph sieht sich daher, mit voller Besonnenheit, eingeschränkt urteilen. Auf dem Standpunkt des bloßen Urteilens gibt es also ein Nichtich. Der geheimnisvolle Reiz für die Urteilskraft zu erklären, was auf diesem Wege ewig unerklärbar ist, bleibt also trotz der t~bersicht des Philosophen, und muß, damit die Intelligenz blcibe, in alle Ewigkeit so bleiben.
Passiv fühlt sich demnach der Mensch nur auf der Stufe des bloßen Urteilens.
Begreifen werden wir uns also nie ganz; aber wir werden und können uns selbst weit mehr als begreifen. 2149

Wie wenig Menschen haben sich nur zu einer mannigfaltigen - schweigend totalen Aufmerksamkeit auf alles, was um und in ihnen, in jedem Augenblicke vorgeht, erzogen. Bonnets Bemerkung - Aufmerksamkeit ist Mutter des Genies. 2150

Man würde mit vielen Menschen zufrieden sein, wenn man die Betrachtung nicht ganz über der entgegengesetzten vergäße, was diese Menschen alles nicht sein könnten - oder wieviel schlimmer - und geringer sie so leicht sein könnten. 2151

Was fehlt einem, wenn man brave, rechtliche Eltern, achtungs- und liebenswerte Freunde, geistvolle und mannigfache Bekannten, einen unbescholtenen Ruf, eine gefällige Gestalt, konventionelle Lebensart, einen meistens gesunden Körper, angemessene Beschäftigungen, angenehme und nützliche Fertigkeiten, eine heitere Seele, ein mäßiges Auskommen, mannigfaltige Schönheiten der Natur und Kunst um sich her, ein im ganzen zufriednes Gewissen - und entweder die Liebe, die Welt und das Familienleben noch vor sich - oder die Liebe neben sich, die Welt hinter sich und eine gut geratene Familie um sich hat - ich dächtc dort nichts als fleißiger Mut und geduldiges Vertrauen - hier nichts als Glauben und ein freundlicher Tod. 2152

Jeder sich absondernde, gewöhnlich affektiert scheinende Mensch ist denn doch ein Mensch, bei dem sich ein Grundsatz regt. Jedes unnatürliche Betragen ist Symptom einer angeschoßnen Maxime. Selbständigkeit muß affektiert anfangen. Alle Moral fängt affektiert an. Sie gebietet Affektation. Aller Anfang ist ungeschickt. 2153

Durch allzu häufiges Reflektieren auf sich selbst wird der Mensch fur sich selbst abgestumpft und verliert den gesunden Sinn für sich selbst. 2154

Mensch werden ist eine Kunst 2155

Der Mensch: Metapher. 2156

Nur w enn wir uns, als Menschen, mit andern Vernunftwesen vergleichen könnten, würden wir wissen, was wir eigentlich sind, auf welcher Stelle wir stehn. 2157

Über den Spruch: des Menschen Wille ist sein Himmelreich. 2158

On dédaigne la Boue - pourquoi? Ne sommesnous pas de la boue parvenus? Partout de la boue, rien que de la boue, et on s'étonne, que la boue n'a pas changé de Nature. 2159

S'il faut, que Dieu nous aime, et que Dieu est tout, il faut bien aussi, que nous soyons rien. 2160

Une forte quantité d'opinions est fondée sur le principe que nous sommes rien. Les Meilleurs ajoutent, que nous sommes pourtant susceptibles d'une certaine Espèce de Valeur absolue - en nous reconnaissant pour rien, et en croyant à l'amour de Dieu. 2161

Man kann immer zugeben, daß der Mensch einen vorwaltenden Hang zum Bösen hat - desto besser ist er von Natur, denn nur das Ungleichartige zieht sich an. 2162

Böse Menschen müssen das Böse aus Haß gegen die Bösen tun. Sie halten alles für böse, und dann ist ihr zerstörender Hang sehr natürlich - denn so wie das Gute das Erhaltende, so ist das Böse das Zerstörende. Dies reibt sich am Ende selbst auf und widerspricht sich sogar im Begriff, dahingegen jenes sich selbst bestätigt und in sich selbst besteht und fortdauert. Die Bösen müssen wider ihren und mit ihrem Willen zugleich böse handeln. Sie fühlen, daß jeder Schlag sie selbst trifft, und doch können sie das Schlagen nicht lassen. Bosheit ist nichts als eine Gemütskrankheit, die in der Vernunft ihren Sitz hat und daher so hartnäckig und nur durch ein Wunder zu heilen ist. 2163

Es fehlt uns nicht an Gelegenheit, Menschen außer der Welt, und zwar vor und nach der Welt zu betrachten, - zu Menschen und nicht zu Menschen bestimmte Stamina. Jenes Kinder; dieses Alte. 2164

Kunst zu leben - gegen die Makrobiotik. 2165

Müssen denn alle Menschen Menschen sein? Es kann auch ganz andere Wesen als Menschen in menschlicher Gestalt geben. 2166

Wir sind aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus. 2167

Menschenlehre. Ein Mensch kann alles dadurch adeln (seiner würdig machen), daß er es will. 2168

Durch die Gemeinschaft und den Umgang mit andern Menschen wird der Glaube an die Existenz der äußern Welt befestigt. 2169

Man sollte stolz auf den Schmerz sein - jeder Schmerz usw. ist eine Erinnerung unsers hohen Rangs. 2170

Wir sollen nicht bloß Menschen, wir sollen auch mehr als Menschen sein. - Der Mensch ist überhaupt soviel als Universum - Es ist nichts Bestimmtes - Es kann und soll etwas Bestimmtes und Unbestimmtes zugleich sein. 2171

Manchen fehlt es an Gegenwart des Geistes - dafür haben sie desto mehr Zukunft des Geistes. 2172

Der vollendete Mensch muß gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben - ihm müssen beständig ein weiter Kreis und mannigfache Begebenheiten gegenwärtig sein. Hier bildet sich dann die wahre, großartige Gegenwart des Geistes - die den Menschen zum eigentlichen Weltbürger macht und ihn in jedem Augenblicke seines Lebens durch die wohltätigsten Assoziationen reizt, stärkt, und in die helle Stimmung einer besonnenen Tätigkeit versetzt. 2173

Freiheit ist wie Glück - dem schädlich - und jenem nützlich. 2174

Im Grunde lebt jeder Mensch in seinem Willen. Ein fester Vorsatz ist das universalberuhigende Mittel. Unser Charakter, unsere Vorneigungen usw. machen uns alles angenehm und zuwider. 2175

Über die Veränderungen des Menschen - Kann man eigentlich sagen, daß sich der Mensch verändre? 2176

Mühe und Pein haben eine angenehme Reaktion - Sie sind Heilmittel und daher scheinen sie den Menschen so verdienstlich und wohltätig. 2177

Ein verkehrter Tag, wo man mit dem Abend anfängt und mit Morgen endigt. 2178

Das Gefühl der Gesundheit, des Wohlbefindens, der Zufriedenheit ist durchaus persönlich, zufällig und hängt nur indirekt von äußern Umständen ab. Daher alles Suchen es nicht hervorbringt, und vielleicht liegt hier der reale Grund aller mythologischen Personifikationen. 2179

Krankheiten, besonders langwierige, sind Lehrjahre der Lebenskunst und der Gemütsbildung. Man muß sie durch tägliche Bemerkungen zu benutzen suchen. Ist denn nicht das Leben des gebildeten Mcnschen eine beständige Aufforderung zum Lernen? Der gebildete Mensch lebt durchaus für die Zukunft. Sein Leben ist Kampf; seine Erhaltung und sein Zweck Wissenschaft und Kunst.
Je mehr man lernt, nicht mehr in Augenblicken, sondern in Jahren usw. zu leben, desto edler wird man. Die hastige Unruh, das kleinliche Treiben des Geistes, geht in große, ruhige, einfache und vielumfassende Tätigkeit über, und die herrliche Geduld findet sich ein. Immer triumphierender wird Religion und Sittlichkeit, diese Grundfesten unsers Daseins.
Jede Bedrängnis der Natur ist eine Erinnerung höherer Heimat, einer höhern, verwandtern Natur 2180

Märtyrer sind geistliche Helden. Jeder Mensch hat wohl seine Märtyrerjahre. Christus war der große Märtyrer unsers Geschlechts. Durch ihn ist das Märtyrertum unendlich tiefsinnig und heilig geworden. O! daß ich Märtyrersinn hätte? 2181

NOTEN ZUM TÄGLICHEN LEBEN

Über das Schlafengehn, das Müßiggehn, Essen. Abend, Morgen, das Jahr. Die Wäsche. Tägliche Beschäftigungen und Gesellschaften. Umgebung, Meublement, Gegend und Kleidung usw. 2182

Alles, was uns umgibt, die täglichen Vorfälle, die gewöhnlichen Verhältnisse, die Gewohnheiten unserer Lebensart, haben einen ununterbrochnen, eben darum unbemerkbaren, aber höchst wichtigen Einfluß auf uns. So heilsam und zweckdienlich dieser Kreislauf uns ist, insofern wir Genossen einer bestimmten Zeit, Glieder einer spezifischen Korporation sind, so hindert uns doch derselbe an einer höhern Entwicklung unsrer Natur. Divinatorische, magische, echt poetische Menschen können unter Verhältnissen, wie die unsrigen sind, nicht entstehn. (2183)

Über Übung. (2184)

Schlaf, Nahrung, Anzug und Reinigung, mündliche, schriftliche und handgreifliche Geschäfte (für mich, für den Staat, für meine Privatzirkel, für Menschen, für Welt). Gesellschaft, Bewegung, Amüsement, Kunsttätigkeit. 2185

Ein Premierminister, ein Fürst, ein Direktor überhaupt hat nur Menschen- und Künstler-, Charakter- und Talentkenntnis nötig. 2186

Der eigentliche Geschäftsmann hat weniger Kenntnisse und Fertigkeiten als historischen Geist und Bildung nötig. 2187

Verzeichnis aller Utensilien in einem Hause. 2188

Unnütze und gemeine Ansicht des Nutzens. 2189

Das Nützliche kann nur so dem Angenehmen entgegengesetzt werden als der Buchstabe dem Geiste oder das Mittel dem Zwecke. Unmittelbarer Besitz und Erwerb des Gemütlichen ist freilich unser ursprünglicher Wunsch, aber in der gegen wärtigcn Welt ist alles durchaus bedingt, und alles kann nur unter gewissen fremdartigen Voraussetzungen erlangt werden. 2190

Verdanken die Menschen dem Adel nichts? Sind sie reif genug, den Adel zu entbehren? 2191

Solange es noch Tapfre und Feige gibt - wird auch Adel sein. (Apologie des Erbadels, relativ) 2192

Der Vornehme vermehrt die Zentripetalkraft im Geringeren. 2193

Je höher etwas ist, desto weniger stößt es um - sondern bestärkt und verbessert vielmehr. 2194

Jeder Engländer ist eine Insel. 2195

Meinung ist individuell und wirkliche Meinung nur unter Meinungen. - Welche also nicht alle übrigen nezessitiert, ist noch keine wirkliche Meinung. So mit den Religionen, so den Naturwesen und allem. 2196

Wir wissen nur insoweit wir machen. 2197

An Gedanken interessiert uns entwedcr der Inhalt - die neue, frappante, richtige Funktion, oder ihre Entstehung - ihre Geschichte, ihre Verhältnisse - ihre mannigfaltige Stellung - ihre mannigfaltige Anwendung - ihr Nutzen - ihre verschiednen Formationen - . So läßt sich ein sehr trivialer Gedanke sehr interessant bearbeiten. Ein sehr weitläuftiges Unternehmen der Art kann sehr interessant sein, - ohnerachtet das Resultat eine Armseligkeit ist - hier ist die Methode - der Gang - der Prozcß das Intcressante und Angenehme. Jc rcifer man ist - desto mehr wird man Interessc an Produktionen der letztern Art haben. Das Neue interessiert weniger, weil man sieht, daß sich aus dem Alten so viel machen läßt. Kurz, man verliert die Lust am Mannigfaltigen, je mehr man Sinn für die Unendlichkeit des Einzelnen bekömmt - Man lernt das mit einem Instrument machen, wozu andre hunderte nötig haben - und interessiert sich überhaupt mehr für das Ausführen als für das Erfinden. 2198

Jedes echte Mittel ist das wesentliche Glied eines Zwecks, daher unvergänglich und bleibend wie dieser. Umgekehrter Prozeß, wo das Mittel Elauptsache und das Resultat Nebensache wird: schöner Prozeß. 2199

Jedes Ding hat seine Zeit. Übereilung. 2200

Sich nach den Dingen oder die Dinge nach sich richten - ist eins. 2201

Das Genießen und Machenlassen scheint in der Tat edler als das Verfertigen, als das Hervorbringen - das Zusehn als das Tun - das Denken als das Realisieren oder das Sein!!! 2202

Philosophie des Lebens enthält die Wissenschaft vom unabhängigen, selbstgemachten, in meiner Gewalt stehenden Leben - und gehört zur Lebenskunstlehre, oder dem System der Vorschriften, sich ein solches Leben zu bereiten. Alles Historische bezieht sich auf ein Gegebnes, so wie gegenteils alles Philosophische sich auf ein Gemachtes bezieht. - Aber auch die Historie hat einen philosophischen Teil. 2203

Unsere Meinung, Glaube, Überzeugung von der Schwierigkeit, Leichtigkeit, Erlaubtheit undNichterlaubtheit, Möglichkeit und Unmöglichkeit, Erfolg und Nichterfolg usw. eines Unternehmens, einer Elandlung bestimmt in der Tat dieselben. Z. B., es ist etwas mühselig und schädlich, wenn ich glaube, daß es so ist, und so fort. Selbst der Erfolg des Wissens beruht auf der Macht des Glaubens. In allem Wissen ist Glauben. 2204

Nichts bewahrt gewiß so sicher vor Unsinn - als Tätigkeit - technische Wirksamkeit. 2205

Nur das Bleibende ist unsl er ganzen Aufmerksamkeit wert - das fortwährend Nützliche. 2206

Über das Talent zu lernen, zuzuhören, zu betrachten, kurz nachzubilden, ohne eigne Mitwirkung. 2207

Wer nicht vorsätzlich, nach Plan und mit Aufmerksamkeit tätig sein kann, verrät Schwäche. Die Seele wird durch die Zersetzung zu schwach. Ohne Aufmerksamkcit auf das, was sie tut, gelingt ihr vieles. Sobald sie sich teilen muß, wird bei aller Anstrengung nichts. Hier muß sie sich überhaupt zu stärken suchen. Oft ist Verwöhnung daran schuld. Das Organ der Aufmerksamkeit ist auf Kosten des tätigen Organs geübt - voraus gebildet, zu reizbar gemacht worden. Nun zieht es alle Kraft an sich, und so entsteht diese Disproportion. 2208

Was muß ich lernen? Was kann nur gelernt werden? Aus Lernen und Hervorbringen entsteht die wissenschaftliche Bildung. 2209

Die sogenannten falschen Tendenzen sind die besten Mittel vielseitige Bildung zu bekommen. 2210

Es ist doch keine größere Freude, als alles zu verstehn - überall zu Hause zu sein - von allem Bescheid zu wissen - überall sich helfen zu können. Will man dann auch überall das Rechte, sucht man überall guten, lebendigen Willen zu erregen, zu erhalten - und alles zu einer schönen Absicht zu erheben, so kann man sich getrost für einen musterhaften Menschen halten und sich herzlich lieb haben und verehren. 2211

Etwas zu lernen ist ein sehr schöner Genuß - und etwas wirklich zu können ist die Quelle der Wohlbehägligkeit. 2212

Es ist nicht das Wissen allein, was uns glücklich macht, es ist die Qualität des Wissens, die subjektive Beschaffenheit des Wissens. Vollkommnes Wissen ist Überzeugung; und sie ist's, die uns glücklich macht und befriedigt. Totes - lebendiges Wissen. 2213

Wenn man einen Riesen sieht, so untersuche man erst den Stand der Sonne - und gebe acht, ob es nicht der Schatten eines Pygmäen ist.
(Über die ungeheuren Wirkungen des Kleinen - sind sie nicht alle wie der Riesenschatten des Pygmäen erklärbar?) 2214

Auch der Zufall ist nicht unergründlich - er hat seine Regelmäßigkeit. 2215

Aller Zufall ist wunderbar - Berührung eines höhern Wesens - ein Problem, Datum des tätig religiösen Sinns.
(Verwandlung in Zufall.)
Wunderbare Worte - und Formeln. (Synthesis des Willkürlichen und Unwillkürlichen.)
(Flamme zwischen Nichts und Etwas.) 2216

Spielen ist Experimentieren mit dem Zufall. 2217

Es giht gar kein eigentliches Unglück in der Welt - Glück und Unglück stehn in beständiger Waage. Jedes Unglück ist gleichsam das Hindernis eines Stroms, der nach überwundner Hinderung nur desto mächtiger durchbricht. Ni}gends auffallender als beim Mißwachs in der Ökonomie. 2218

Wer rechten Sinn für den Zufall hat, der kann alles Zufällige zur Bestimmung eines unbekannten Zufalls benutzen - er kann das Schicksal mit gleichem Glück in den Stellungen der Gestirne als in Sandkörnern, Vogelflug und Figuren suchen. 2219

Je abhängiger vom Zufall und von Umständen, desto weniger bestimmten, ausgebildeten, angewandten Willen - je mehr dies, je unabhängiger dort. 2220

Annihilation der niedern Bedürfnisse. Nur durch Bedürfnisse bin ich eingeschränkt - oder einschränkbar. Man muß ein niedres Bedürfnis und alles das, dem man keinen Einfluß auf sich gestatten will, absolut, als nicht für mich vorhanden, als non existent setzen - dadurch heb' ich alle Gemeinschaft mit ihm auf. 2221

Die Herrnhuter annihilieren ihre Vernunft - die Empfindsamen ihren Vestand - die Leute von Verstand ihr Herz. Kein Akt ist gewöhnlicher in uns - als der Annihilisationsakt. Eben so gewöhnlich ist der Positionsakt. Wir setzen und nehmen etwas willkürlich so an, weil wir es wollen. - Nicht aus bewußtem Eigensinn, denn hier wird wirklich mit Hinsicht auf unsern Willen etwas festgesetzt, sondern aus instinktartigem Eigensinn, der ebenfalls in der Trägheit, so sonderbar es auch scheint, seinen Grund hat. Es ist ein äußerst bequemes Vcrfahren, sich aller Mühe des Forschens zu überheben und allem innern und äußern Streit und Zwiespalt ein Ende zu machen. Es ist eine Art von Zauberei, durch die wir die Welt umher nach unsrer Bequemlichkeit und Laune bestellen.
Beide Handlungen sind verwandt und werden meistens zusammen angetroffcn. Es entsteht aber dadurch lauter Mißklang, und der Mcnsch, der auf diese Weise zu verfahren pflegt, befindet sich im Zustand der mehr oder minder ausgebildeten Wildheit .
Es gibt mancherlei Arten, von der vereinigten Sinnenwelt unabhängig zu werden.
1. durch Abstumpfung der Sinne (Gewöhnung, Erschöpfung, Abhärtung usw.),
2. durch zweckdienliche Anwendung, Mäßigung und Abwechselung der Sinnenreize (Heilkunst),
3. durch Maximen a) der Verachtung und b) der Feindlichkeit gegen alle Empfindungen. Die Maxime der Verachtung äußrer Empfindungen war den Stoikern und ist zum Teil den Wilden von Amerika eigen;
die der innern Empfindungen den sogenannten Leuten von Verstand in der großen Welt und sonst.
Die Maxime der Feindlichkeit gegen äußre und innre Empfindungen haben die strengen Anachoreten, Fakirs, Mönche, Büßer und Peiniger aller Zeit aufgestellt und oft und zum Teil befolgt. Manche sogenannte Bösewichter mögen diese Maxime wenigstens dunkel gehabt haben. Beide Maximen gehen leicht ineinander über und vermischen sich
4. teilweise durch Aushebung gewisser Sinne oder gewisser Reize, die durch Übung und Maxime einen beständigen, überwiegenden Einfluß erhalten.
So hat man sich mittelst des Körpers von der Seele, und umgekehrt mittelst dieses oder jenes äußern oder innern Gegenstandes von der Einwirkung aller übrigen Gegenstände losgemacht. Dahin gehört Leidenschaft aller Art, Glauben und Zuversicht zu uns selbst, zu andern Personen und Dingen, zu Geistern usw. Vorurteile und Meinungen befördern ebenfalls eine solche Teilfreiheit. So kann auch eine Unabhängigkeit von der wirklichen Sinnenwelt entstehn, indem man sich an die Zeichenwelt oder auch die vorgestellte Welt entweder gewöhnt, oder sie statt jener, als allein reizend, für sich festsetzt. Das erste pflegt bei Gelehrten und sonst noch sehr häufig der Fall zu sein - und beruht, nach dem, was oben gesagt wurde, auf dem gewöhnlich trägen Behagen des Menschen am Willkürlichen und Selbstgemachten und Festgesetztcn. Umgekehrt findet man Leute, die von der Vorstellungs- und Zeichenwelt nichts wissen wollen; das sind die rohsinnlichen Menschen, die alle Unabhängigkeit der Art für sich vernichten, und deren träge, plumpe, knechtische Gesinnung man in neuern Zeiten auch teilweise zum System erhoben hat - (Rousseau, Helvetius, auch Locke usw.) ein System, dessen Grundsatz zum Teil ziemlich allgemein Mode geworden ist. 2222


Note: Novalis, pseudonym of Friedrich von Hardenberg (1772-1801). The pseudonym of this German poet and philosopher came from an earlier family name "de Novali". During law studies in Jena he became acquainted with Schiller, and then in Leipzig he met Schlegel.
The works of Novalis were written during a very short time span, 1797-1801. He is most famous for his romance piece "Heinrich von Ofterdingen" and the "Hymnen and die Nacht", which he wrote in memory of his young love Sophie von Kühn, dead in tuberculosis at the age of 14.
The fragments and encyclopedic notations of Novalis are remarkable, and remarkably modern. "Blütenstaub" is the most famous of his collections of fragments. The New Fragments (Neue Fragmente) and The Encyclopedia (Die Enzyklopädie) are not as aphoristic but more daring. In his "Psychologie", Novalis was influenced by John Brown, a professor of medicine, who claimed that there were only two diseases, sthenic and asthenic, and that stimulants or sedatives, alcohol or opium, were the only options for treatment.
The texts here are from the Ewald Wasmuth edition of Novalis Werke/Briefe/Dokumente (rev. 1957). /KET
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